Kurzgeschichten aus der Komfortzone

Die folgenden Kurzgeschichten sollen Sie neugierig auf Ihre persönliche stimmliche Komfortzone machen.
Ein Stimm- und Sprechtraining sollte immer den Raum dafür bieten, zu lernen, genau hin zu hören und darauf einzugehen, was der Körper, die Stimme bzw. man selbst braucht.

Je achtsamer Sie das Training umsetzen, umso klarer entsteht Ihre eigene Komfortzone. So wird das Training nachhaltig und bekommt einen individuellen Mehrwert.

Ich bin der festen Überzeugung „Lieber zwei Übungen trainieren, die wirklich gut zu Ihrer Stimme passen, als die weite Reise durch die gesamte Stimmbildung zu durchlaufen“.

Bauen Sie sich Ihre Komfortzone auf, es lohnt sich – Ihre Stimme wird es Ihnen danken.

*Selbstverständlich sind aus datenschutzrechtlichen Gründen die Namen der beschriebenen Personen, Orte, etc. geändert.

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Der Muskel

Seit Jahren unterrichte ich das Schauspiel Ensemble Lüneburg. Lukas, ein Schauspieler, der neu im Ensemble war, brachte mich auf die Idee, über Komfortzonen in der Stimmbildung zu schreiben. Dieser sehr sportliche Schauspieler war der Meinung, seine Stimme sei ein Muskel, den er, ganz wie z.B. seinen Bizeps, nur ordentlich trainieren müsse, dann würde die Stimme immer stärker werden. „Oje“, dachte ich, “was wohl die armen Schleimhäute dazu sagen?“. Und so wunderte es mich nicht, dass er auf der Bühne stimmliche Enge spürte und sich alles erst nach „Schreien“ anfühlte und danach nur noch nach Heiserkeit. Lukas hatte es geschafft, sich durch sein „Kraftstimmen warm up Training“ schon vor der Vorstellung heiser zu trainieren. Für ihn war der Gedanke, ganz sanft mit seiner Stimme umzugehen, völlig neu.
Im Sprechvorgang durchläuft die Stimme sehr komplexe Bewegungsmuster, die u.a. über das Gehör gesteuert werden. Werden Übungen mit zu viel Lautstärke gemacht, erhöht sich in der Bewegung der Druck auf die Schleimhäute der Stimmlippen und den musculus vocalis, es entsteht Heiserkeit bzw. der Reiz, sich zu räuspern. So zu trainieren könnte man auch als unbewusste Selbstsabotage bezeichnen. Umgekehrt kann man sagen, „je sanfter man trainiert, umso genauer sind die Bewegungsabläufe“. Die Stimme hat so die Möglichkeit, ihre Variabilität zu steigern, und wird gleichzeitig schonend aufgebaut.
Die Komfortzone für Lukas entstand somit aus dem kenntnisreichen, bewussten Umgang mit seiner Stimme: nicht Kraft, sondern Hören war der Schlüssel zum stimmlichen Aufwärmen vor einer Vorstellung, und „Viel hilft nicht immer viel“.

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Das brave Mäntelchen

Marie hatte etwas ganz Entscheidendes geschafft, bevor sie zu mir in den Unterricht kam. 
Schon vor Jahren hatte sie sich ihren hartnäckigen Heimatdialekt mit Hilfe einer Logopädin abtrainiert. Anfang des letzten Jahres hat sie eine neue Stelle in Norddeutschland angetreten und musste in einer doch sehr männerdominierten Branche immer öfter Seminare und Fortbildungen halten. Selbstverständlich ist sie inhaltlich perfekt vorbereitet, aber zunehmend bekam sie von ihren männlichen Kollegen die Rückmeldung, dass sie zu hoch und zu schrill spräche. Deshalb kam sie zu mir.
Recht schnell wurde klar, warum ihre Stimme so schrill und hoch klang: Marie lächelte unentwegt, während sie sprach. Ihre Gesichtsmotorik hatte sich auf dieses Lächeln komplett eingestellt. Wie ein braves Mäntelchen zog sie das Lächeln als eine Art Arbeitsuniform an – und konnte es nicht abstellen. Durch diese feste Position der Gesichtsmuskeln klang auch ihre Stimme fest und angestrengt. Stück für Stück brachten wir ihrem Körper mit Hilfe von Stimm- und Artikulationsübungen sowie Atemtechnik eine tiefere, ihm angepasste Indifferenzlage bei, so dass die Stimme sich beim Sprechen erholen konnte und nicht mehr schrill wurde. Ihr Körper lernte darüberhinaus, dass man auch mit den Augen gut lächeln kann und keineswegs unfreundlich aussieht, nur weil man beim Sprechen keinen Lächelmund formt. 
Diese Komfortzone habe ich sehr gerne für und mit meiner Kundin gebaut. Man muss weder brav noch ein Mann sein, sondern nur wissen, wie man sein eigenes Instrument stimmlich präsent einsetzen kann, dann funktionieren auch Frauenstimmen in Männerbranchen.

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Der schlaue Schwabe

Richard war ein junger Webdesigner aus Stuttgart. Nach dem Studium war eine Werbeagentur in Hamburg sein erster großer Arbeitgeber. Das bedeutete beruflichen, aber auch persönlichen Druck, denn sobald er sprach, war klar, dass er nicht aus dem Norden kam und weit davon entfernt war, Hochdeutsch zu sprechen. Auch wenn Schwäbisch als Dialekt nicht komplett unbeliebt ist, spürte er, dass diese Sprechweise doch eine gewisse Komik mit sich trug: durch das „-isch“, „-le“ am Ende von Wörtern und den Stuttgarter Singsang nahm man ihn manchesmal nicht ganz ernst.
Also machten Richard und ich uns an die Arbeit, seinen Dialekt zurück in die Heimat zu schicken. Neben dem Basistraining entwickelten wir eine Strategie, wo und wann er das Hochdeutsche zur Übrung einsetzen sollte. Unser Plan war – die Kantine. Bei der Essensbestellung sollte er bewusst Hochdeutsch sprechen. Wir überlegten also, was er sagen würde, das sprach ich als .mp3 ein. Durch das Anhören wurde ihm die Intonation des Hochdeutschen vertraut und wendete sie anschließend selbst an. So gewöhnte er sich schrittweise an den „hochdeutschen Richard“ und kam sich nicht albern vor, wenn er für seine eigenen Ohren so „merkwürdig korrekt“ sprach. Nach dem Kantinen-Training wendete er die neue Intonation auch in seinem beruflichen Umfeld immer weiter an. Heute kann er fließend zwischen Hochdeutsch und Schwäbisch wechseln.

Richard hat einerseits intensiv selbständig trainiert und sich andererseits viel Zeit gelassen – seine nur 10 Stunden bei mir verteilten sich über ein ganzes Jahr. Seine Komfortzone war der geschützte Raum der Kantine und das Sich-Zeit-Lassen im Training, ohne das Ziel dabei aus den Augen zu verlieren.

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Die unsichtbare liegende Acht

Herr Lichter war für zehn Wochen aus beruflichen Gründen in Hamburg. Sein Umfeld und auch sein Arbeitgeber hatten sein sprachliches Handicap voll akzeptiert: Herr Lichter war Stotterer. Der Logopädische Unterricht vor 20 Jahren war zwar irgendwie eine Hilfe gewesen, aber das Stottern blieb ein Teil von Herrn Lichter.
Eigentlich hätte er sich mit seinen 48 Jahren gar nicht mehr bemühen müssen. In der Fortbildung für Führungskräfte störte ihn das Stottern nun doch. Er dachte sich, es gibt doch den Film „The Kings Speech“ – vielleicht sollte ich Unterricht bei einer Schauspielerin nehmen?!? Stottern ist nicht gerade mein Spezialgebiet, aber weil wir uns beide sympathisch waren, versuchten wir es: Herr Lichter und ich hatten zehn Wochen Zeit, einen Weg aus dem Stottern heraus zu finden.
Zunächst gingen wir ganz klassisch an unser Projekt heran. Stimmbildung, spezielle Atemtechniken und Artikulationsübungen halfen, wenn Herr Lichter viel Ruhe beim Sprechen hatte – aber bei spontanem Sprechen, dem Beantworten von Fragen oder dem Vorlesen von Unterrichtstexten war das Stottern sofort wieder da.
Und so erzählte ich ihm von meinem eigenen Problem und meiner Lösung: der Trickkiste. Ich stottere zwar nicht, aber mich macht Essen in Gesellschaft nervös, weil ich befürchte, dass mir etwas entgleiten könnte. Meine linke Hand fängt sichtbar zu zittern an und verstärkt so die Panik, nicht vernünftig essen zu können. Diese „Macke“ ging in meinem Leben schon so weit, dass ich ganz aufhörte, vor anderen zu essen oder zu trinken. Mit einigen „Tricks“ lernte ich, beim Essen vor anderen wieder darauf zu vertrauen, dass ich meine Nahrung fehlerfrei vom Teller zum Mund befördern konnte: lieber Gabeln statt Löffel benutzen (Salat statt Suppe, Brot statt Spaghetti, usw.), den Ellenbogen unterstützend leicht an der Tischkante anlehnen, etc. Die kleinen, unsichtbaren Instrumente der Trickkiste waren meine Ausstattung, mein Problem im Alltag zu lösen. Dass auch ich einmal mit einem dem Stottern ähnelnden Problem zu kämpfen hatte, beeindruckte Herrn Lichter und er ging auf meine Idee ein. Wir bauten ihm also eine Trickkiste. Sie enthält unter anderem die folgenden Elemente: Beim Beantworten von Fragen erst einmal durch den Mund tief einatmen und kurz innehalten, das verschafft Zeit um über die Antwort nachzudenken. 
Wenn er an einem Tisch sitzt und seine Beine nicht sichtbar sind, nimmt Herr Lichter eine Position ein, in der er präsenter aussieht und ganz frei atmen und leichter sprechen kann (wir haben sie „Gorilla-Sitz“ getauft). Wenn er eine Präsentation hält und frei spricht, hat er immer einen Kugelschreiber in der Hand; neben einladenden Gesten schwingt er beim Sprechen eine unsichtbare liegende Acht nach, und findet hierüber den Rhythmus und die Intonation der Sprache. Wie durch ein Wunder ging das Stottern mit diesen Tricks nach kurzer Zeit zurück. Herr Lichters Komfortzone entstand durch die Erarbeitung und Anwendung seiner persönlichen kleinen Tricks – und er hatte immer mehr Freude daran, hörbar und sichtbar zu sein. Besser hätten wir seine Zeit in Hamburg nicht nutzen können.

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